Modernes Menschheits- und Gesundheitsverständnis

Prof.Dr.med.C.A. Schneider

Prof.Dr.med.C.A. Schneider

-
  • Gesundheit
Modernes Menschheits- und Gesundheitsverständnis

In der Zeitung Die Tagespost vom 30 Januar 2025 schreibt Günter Seubold: „Im gegenwärtigen Wissenschafts- und Technikbetrieb aber ist der Mensch ein objektivierter, letztlich auf einen kausal-mechanischen Zusammenhang reduzierter Körper, dessen imperfektes Wesen man permanent zu verbessern strebt. Als äußerster Fluchtpunkt zielt man seit längerer Zeit nicht nur auf langes Leben („Longevity") und Verjüngung („Rejuvenation“), sondern gar auf Unsterblichkeit, nicht im Jenseits, sondern im Diesseits. Und dieses neuartige Menschen-Design geht nicht von einer Person, nicht von einer Partei oder Institution, nicht von einem Staat aus – es gebiert sich aus dem weltweiten Prozess eines „Anthro-Engineering", der sich als Wettlauf und Wettstreit gestaltet: Der Schnellste wird mit der Patentierung und Vermarktung die größten Gewinne einfahren."

Im säkularisierten 21. Jahrhundert haben wir verlernt, mit den Themen Schmerzen, Endlichkeit und Tod offen umzugehen: Diese Themen werden entweder schamhaft negiert, verdrängt oder delegiert. Dies begegnet mir in vielfältigen Gesprächen mit meinen Patienten in jeder Sprechstunde. Unser aller Wunsch ist ja implizit und unausgesprochen, immer gesund zu bleiben und wie Gott unsterblich zu werden. Der hier zitierte Prozess des „Anthro-Engineering" schürt diese Hoffnung und lässt die sogenannten letzten Fragen nach dem „Woher" und dem „Wohin" immer weiter verblassen. Auch der international bekannte Weltbestseller von Peter Attia „Outlive" ist in diesem Kontext zu sehen: Durch immer genauere Diagnostik und spezifizierte Therapien wird es uns doch wohl gelingen (müssen?), in der Breite der Bevölkerung gesund alt zu werden. Die Vision des „gesunden Alten" ist gerade in einer alternden Gesellschaft, in der wir Babyboomer demnächst nicht mehr im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zentrum maßgebend sein werden, inhaltlich und finanziell außerordentlich attraktiv. Selbstoptimierung ist der Weg, den es zu gehen gilt. Wer nicht mitmacht, ist dann selbst schuld, wenn er krank wird.

Gesundheit immer als ganzheitlicher Prozess

Ob sich diese Vision für uns Babyboomer tatsächlich realisieren lässt, wage ich aktuell nicht zu beurteilen. Ich habe meine Zweifel. Die aktuellen Gesundheitsdaten in Deutschland lehren uns Anderes: Unsere Lebenserwartung ist trotz des enormen finanziellen Aufwands, den wir in Deutschland betreiben, im OECD-Vergleich unterdurchschnittlich. Ob hier tatsächlich ein „Anthro-Engineering" unter dem Aspekt eines transhumanistischen Gesundheitsverständnisses helfen wird, bleibt abzuwarten. Auch hier bleibe ich für die Lebenszeit der Babyboomer (d.h. die nächsten 20 Jahre) skeptisch. Immerhin ist es denkbar, dass wir in den nächsten Jahrzehnten eine Gesundheitsrevolution erleben werden, einen neuen kondratieffschen Zyklus, der Informatik und Bio-Engineering verknüpft (siehe dazu YN Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert). Erste KI-gestützte Daten zur Diagnostik (Mammakarzinom), Differentialdiagnostik und Online-Psychotherapie sind ermutigend. Trotz dieser ermutigenden, zum Teil aber auch beängstigenden Entwicklungen sollten wir nicht übersehen, dass wir Menschen nicht nur körperliche, sondern auch geistige und seelische Wesen sind, die als "zooa politika" (Aristoteles) in einer Gesellschaft eingebettet sind und immer auf das Du verwiesen bleiben (M. Buber: „Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es"; T. Merton: „Keiner ist eine Insel"). Wenn wir von holistischen oder ganzheitlichen Ansätzen der Gesundheit sprechen und uns auf den Pfad der Langlebigkeit und Verjüngung begeben wollen (und wer wollte dies nicht?), müssen all diese Dimensionen des Menschseins mitberücksichtigt werden! Es greift deutlich zu kurz, nur über die Optimierung körperlicher Prozesse nachzudenken und andere, mindestens genauso wichtige Aspekte (zum Beispiel soziale und transzendente) zu vernachlässigen. Man könnte sogar den Gedanken erweitern und überspitzt formulieren: Verjüngung und langes Leben in einem narzisstischen, einsamen und gottfernen Zustand sind nicht wirklich erstrebenswert.

Was bedeutet das konkret?

Was können wir jetzt bereits tun? Eine ehrliche 360-Grad-Analyse der eigenen Lebenssituation ist Voraussetzung für eine individuelle Antwort. Grundsätzlich wissen wir, dass die Einhaltung von „gesunden Lebensgewohnheiten" (z.B. BMJ 2020; 368: l6669) mit einer Verlängerung der Lebenserwartung um 5-10 Jahre assoziiert ist. Wie steht es aber um unsere Psyche, um unsere geistige und seelische Gesundheit? Was unternehmen wir konkret, um hier zu gesunden und zu wachsen? Oder bearbeiten wir seit Jahren immer die gleichen Themen und treten auf der Stelle, ohne wirklich einer Lösung näherzukommen? In welchen Bereichen sind wir geistig und seelisch in den letzten Jahren gewachsen? Oder sind wir vertrocknet? Wer oder was wird unseren Durst stillen? Was ist mein Beitrag zur Gesundung unserer Gesellschaft? Wie sind meine sozialen Kontakte zur Familie, zur Gemeinde, zu Freunden und zur Nachbarschaft? Wie wir sehen, gibt es eine Vielzahl von Aspekten in dieser Gesundheitsmatrix, die wir analysieren und gegebenenfalls optimieren können. Wie schön, wenn futuristische Selbstoptimierungsaspekte dies unterstützen können. Solange ich jedoch keine belastbaren wissenschaftlichen Daten für diese futuristischen (Heils‑)Versprechungen sehe, darf ich skeptisch bleiben. Und meine Patienten auf etablierte, langjährig bewiesene Konzepte verweisen, um ihnen zu helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen. Ganzheitlich zu bewältigen.

DoctolibJamedaAnrufen